Themen des Wettbewerbs “Der Mensch in der Geschichte”: Zitate aus den Schülerarbeiten
Familiengeschichte
Polina Gerasimenko (Lesnaja Dolina, Gebiet Uljanowsk). Aus Russland nach Russland
Mein Material sind alte Fotografien, Dokumente, persönliche Gegenstände und die Erinnerungen meiner erwachsenen Familienmitglieder. Ihre Erinnerungen beziehen sich auf die Umsiedlung meiner Vorfahren aus Zentralrussland nach Sibirien während der vorrevolutionären Stolypinschen Agrarreformen, auf ihre Entkulakisierung und zwangsweise Umsiedlung in den sibirischen Norden, wo sie noch eine Lagerhaftstrafe absitzen mussten und von wo sie erst 20 Jahre später freikamen, und zuletzt auf die erzwungene Umsiedlung meiner Eltern aus Kasachstan nach dem Zerfall der Sowjetunion. In die meiner Arbeit beigefügte Karte ist dieser fast Hundert Jahre dauernde Weg meiner Familie mütterlicherseits „aus Russland nach Russland“ eingezeichnet. Er hat uns standhaft gemacht, unsere Herzen nicht vergiftet und keine Bitterkeit gegenüber unserer Heimat zurückgelassen.
Michail Stepanow (Troizk, Gebiet Tscheljabinsk). Begegnungen, die es nur einmal im Leben gibt
Als ich diese Arbeit schrieb, wurde ich sehr nachdenklich und zugleich stolz. Nicht jeder meine Altersgenossen kennt sechs Generationen seiner Vorfahren. Meine waren zwar weder Aristokraten noch gehörten sie zum Hof, doch sie erfreuten sich einer bestimmten Anerkennung. Ohne die Revolution und ihre Folgen hätte sie noch Größeres erreichen können…
Solches Erbe verpflichtet und macht Hoffnung. Und die Geschichte beginnt ja nicht mit mir und meinen erwachsenen Familienmitgliedern, mit denen ich zusammen lebe, sondern viel früher. Das lässt mich fragen, für wen auch ich später einmal so ein legendärer Stammvater sein werde.
Der Preis des Sieges
Sneshana Karawajewa (Montschegorsk, Murmansker Gebiet). Leben jenseits der Frontlinie
Ich habe mir das Dorf meiner Großmutter ausgesucht, wo ich in jedem Sommer bin; es heißt Gorodok und liegt in Belarus, im Molodetschnoer Landkreis, Gebiet Minsk. Gleich zu Beginn des Krieges kamen die Deutschen… Ich wollte erfahren und verstehen, wie die Menschen verschiedener Nationalitäten dieses große Unglück erlebten, wie sie zueinander und zu anderen in ihrer Umgebung standen. Wer wurde als Freund angesehen, und wer als Feind?
Warum haben sich in den gleichen Lebensumständen die einen so und die Nachbarn, die jahrelang nebeneinander gelebt hatten, ganz anders verhalten? Warum lebten die einen in den schweren Kriegsjahren relativ unverändert, heirateten und bekamen Kinder, während andere sich den Partisanen anschlossen und noch andere im Ghetto zugrunde gingen? Natürlich hatte ich auch schon früher viel darüber gehört, hatte Bücher dazu gelesen und Filme gesehen. Doch hier habe ich die einzigartige Chance, mit Menschen zu sprechen, die damals dabei waren, ihre Meinung zu hören und mit ihren Augen mir die fernen Vierzigerjahre des vergangen Jahrhunderts anzusehen.
Jelena Grudinina (Montschegorsk, Murmansker Gebiet). Ein vom Krieg versengtes Schicksal
Meine Patin Jekaterina Fjodorowna Bogdanowa hat in ihrem langen Leben viel Schreckliches erlebt. Sie war bei den Deutschen im Konzentrationslager und hat wie durch ein Wunder überlebt. Als sie in die Heimat zurückkehrte, empfingen ihre Landsleute sie nicht mit Wärme und mit der Unterstützung, die sie damals vor allem gebraucht hätte, sondern mit Verachtung und Hass. Wofür hatte sie das verdient? Sie hatte doch niemanden verraten. Und ich beschloss, auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Nadeshda Skripko (Petrosawodsk, Republik Karelien). Wie Kindheit erinnert wird
Zwei Dinge kamen zufällig zusammen: In der historischen Landeskunde behandelten wir Karelien während des Großen Vaterländischen Kriegs, und mein Großvater erzählte aus seiner Kindheit, die er als minderjähriger Gefangener in einem finnischen Lager für Umsiedler während der Besetzung Kareliens durch die Finnen verbrachte. Ich erfuhr, dass es in der Stadt Petrosawodsk, wo ich geboren bin und wo ich lebe, während der Besatzungszeit sechs Konzentrationslager gab… Die schwierige Situation der minderjährigen Gefangenen kann man gar nicht beschreiben, doch sie lässt sich auch nicht einfach übergehen. Ich konzentriere mich deshalb auf Untersuchungen, in denen es um die Kindheitseindrücke von Menschen geht, die unfreiwillig in diese tragische Seite der Geschichte meiner Stadt involviert waren. So bestimmte ich zu Beginn das Ziel meiner Arbeit.
Axininja Kosolupenko (Dorf Swoboda, Baschkortostan). Lieder der Einwohner des Dorfes Swoboda über Geburt, Leben und Tod einer der Sowchosen der UdSSR
Schon 1941 wurde mehr als die Hälfte der Männer an die Front geschickt. Die tragende Kraft im Dorf wurden die Frauen.
Mädchen, es ist Krieg, Krieg // Mädchen, das heißt Leiden // Wir müssen jetzt auch noch // die Arbeit der Männer mit machen.
643 Männer kamen nicht von der Front zurück. Seitdem gab es bis zum Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr Frauen als Männer im Dorf…
In die Dorfverwaltung von Swoboda // wurde elektrisches Licht gelegt // es leuchtete alle Ecken aus // doch wo sind unsere Männer zu finden?
Der Einzelne und seine engere Heimat
Michail Chruschtschow (Moskau). Eine widerwärtige Gegend
Gegenstand meiner Untersuchung ist ein „widerwärtiger“ Teil der Stadt, der hier Awtosawodskaja genannt werden soll. Das ist eine Reihe von Straßen, die als Oberbegriff den Namen der Metrostation erhielten. Auf der ökologischen Karte von Moskau gehört dieses Gebiet zu den am meisten belasteten Stadtteilen. Diese ökologische Katastrophe resultiert aus der größten Repression des 20. Jahrhunderts. Das 20. Jahrhundert ist über Awtosawodskaja hinweggefegt wie ein flammender Orkan, der seine Ursprünge noch in der Zeit vor der Revolution hatte. Aus einem wunderschönen Fleck Moskaus wurde eine zwischen Fabriken eingepferchte Kloake.
Wadim Wafin, Juri Poluschtschuk, Pawel Uljanow (Workuta, Republik Komi). Workuta und seine Anfänge
Wohl niemals wird man wissen, wie viele Menschen in den Massengräbern von Workuta begraben sind. Einer der ehemaligen Häftlinge von „Workutlag“, der im Lager in der Krankenstation arbeitete, erinnert sich, wie er jeden Tag sogenannten bunte Berichte „nach oben“ geben musste. Sie sahen etwas so aus: rot – 5, grün – 6, grau – 2, lila – 4, schwarz – 3. Rot bedeutete Patienten mit Entzündungen, gelb — mit Magenverstimmungen, grün — Malaria, grau – Pellagra, lila — Skorbut , schwarz – Todesfälle. Schon einen Tag später war aus gelb, rot und lila schwarz geworden. Der Einzelne und die Staatsmacht.
Stanislaw Aristow, Alexei Tscheprassow (Woronesh). Andrei Platonow und sein Umfeld in Woronesh
Wir untersuchen das Leben und die Tätigkeit unseres bedeutendsten Landsmannes während seiner Zeit als Ingenieur für Bodenmelioration in Woronesh… Seine Biografen nutzen nur sehr selten das Archivmaterial des „Prozess gegen die Melioratoren“ als Quelle. Wurde dieser Prozess vielleicht von der UGPU speziell für, d.h. gegen Platonow inszeniert? Es ist bekannt, dass sein Name dort wiederholt genannt wurde. Wer waren die Menschen, mit denen er die Mühen und Freuden der schweren Landvermessungsarbeiten in der unzivilisierten und armen russischen Provinz der 1920er Jahre teilte und die später aus politischen Gründen verurteilt wurden?
Arina Gabaidulina, Nikolai Narizhni, Anastasija Podolskaja, Elena Chawaewa (Nowy Kurlak, Gebiet Woronesh). Als der Kolchos noch jung war
Der Kolchos im Dorf Nowy Kurlak hieß I. M. Warejkis-Kolchos, nach dem damaligen Ersten Gebietssekretär der Allrussischen Kommunistischen Partei–Bolschewiki im Schwarzerdegebiet Zentralrusslands. Viele im Dorf waren unzufrieden mit der neuen Ordnung. Am 7. November (welches Jahr?), dem größten Feiertag der Bolеschwiki, wurde aus dieser Unzufriedenheit offener Widerstand. Am Dorfrat hing ein Flugblatt mit dem Aufruf von Dorfbewohnern, „zu den Waffen zu greifen“ und „diese Kommunarden zu schlagen“. Denn immer noch gingen Gruppen von Aktivisten im Dorf herum, requirierten das Getreide der Bauern bis auf das letzte Korn und zwangen sie, sich in die Listen der Kolchosmitglieder einzutragen. Im Prinzip waren die Bauern gar nicht gegen die Sowjetmacht als solche. Als die Schuldigen sahen sie die Kommunisten an, die die Ideen der Sowjetmacht und der Revolution verfälschten. Deshalb revoltierten sie am 7. November, dem Tag der Revolution. Am 13. November verhaftete die OGPU zwölf Dorfbewohner. Wer waren sie, diese „Feinde“?
Nina Berdenkowa (Borki, Gebiet Tjumen). Ein Lagerhäftling im „Jagrinlag“
Ich bin im Kinderheim aufgewachsen und hätte nie gedacht, dass mich eines Tages das Schicksal eines anderen Menschen so interessieren würde; denn seit meiner frühen Kindheit hatte sich auch niemand für mich interessiert. Es war sehr schmerzhaft, mir dies einzugestehen.
Unsere Erzieherin Asja Walischewna erzählte mir von ihrem Vater und gab mir seine Tagebuch-Erinnerungen zu lesen. Ich hatte ja nie einen Großvater und ich wollte mehr über diesen Mann erfahren, als wäre es mein eigener Großvater gewesen. Ich bin dann mit Asja Walischewna zum Geheimdienst in Tjumen gefahren, wo wir seine Akte durchsehen haben.
Alltagsgeschichte
Tatjana Boiko, Ekaterina Ogorodnik (Sankt Petersburg). Der Sowjetmensch zwischen 1945 und 1965: wie er war, wie er lebte, wie er seine Freizeit verbrachte
Heutzutage findet man kaum noch Eingangstüren zu Kommunalwohnungen. Sie sahen höchst interessant aus mit allen den verschiedenen und verschieden tönenden Klingeln rund um sie herum, oder den Zetteln, auf denen geschrieben stand, wie oft man bei den verschiedenen Familien klingen sollte. S. E. Kontorow erinnert sich: „1950-1964 wohnten wir in einer Kommunalwohnung auf der Wassili-Insel auf dem Großen Prospekt, zusammen mit noch vier anderen Familien. Es gab dort ein Bad, das nicht funktionierte, eine Küche mit Gasherd und fünf Tischen, getrennte Stromzähler und einen Zettel an der Tür, bei wem wie oft geklingelt werden musste. Für die vielen Bewohner der Wohnung gab es in der Regel nur eine Toilette. Die Gemeinschaftsräume wurden abwechselnd von allen saubergemacht. In einen genauen Putzplan waren die Tage oder Wochen eingetragen, an denen jede Familie „dran“ war, je nach ihrer Größe.
Irina Petschalina (Rusajewka, Mordowien). Die Geschichte eines Zeugnisses
Mit je mehr Menschen ich verabredet war, umso fester wurde meine Überzeugung, dass jede Familie ihr eigenes Archiv haben sollte, und sei es auch noch so klein. Inzwischen sah ich die alten Dinge, die in meiner Familie aufgehoben werden, schon mit anderen Augen. Schon erschienen sie mir nicht mehr als unnütz und reine Platzverschwendung: ein Stückchen Gummistoff mit meinem Geburtsdatum aus der Geburtsklinik, die ersten Zeichnungen meines Bruders, die Hefte meiner Mutter, als sie noch Studentin war, alte vergilbte Fotografien von Menschen, die ich gar nicht kannte und die doch irgendwie mit meiner Familie zu tun gehabt hatten. Und ich entwickelte eine große Wertschätzung für diejenigen, die ein Familienarchiv aufgebaut und bewahrt hatten.